Der Bettler musste ein Hellseher oder unglaublich guter Menschenkenner
gewesen sein, denn obwohl ich mir dessen gar nicht bewusst war, verursachte mir
die heutige Zeit mit ihren vielen falschen Versprechungen, Zerstörungen und
Missachtungen aller Werte, wovon die zerfallene Kirche ein nur zu deutliches
Beispiel gab, ein schleichendes sich ständig verstärkendes Unbe- hagen. „Woher
wissen Sie?“, fragte ich perplex. Gütig lächelnd antwortete er: „Wenn man so
viel erlebt und auch erlitten hat wie ich, sieht man das auf den ersten Blick.“
Ich antwortete höflich aber ehrlich: „Nun, ein je- der hat ja hier sein
Päckchen zu tragen, doch bei Dir scheint es, anders als bei den meisten, nicht
die Substanz getroffen zu haben. Es sieht mir aus, als ob Du von Innen, wie
soll ich das nur sagen — leuchten würdest...“ Der Bettler schmunzelte. „Das mit
dem Leuchten hast Du schön gesagt, aber es ist nur die Abendsonne.“
„Nein, es kommt mir
vor, als ob ein Licht von Dir ausgehe.“ „Das wiederum mag sein. Es ist das
Licht der Erkenntnis, das allerdings nur wenige sehen. Fast alle sehen nur mein
Äußeres...“ Worauf ich: „Du meinst also, es ist für mich noch nicht zu spät
umzukehren und statt nur nach Au- ßen vermehrt nach Innen zu schauen?“ „So ist
es. Du bist sogar schon auf dem richtigen Wege. Das zeigt, dass Du hier bist,
denn das ging nur, weil Du Dich führen ließest...“ Doch da erwachte mein Widerspruchsgeist:
„Dann sag mir, wieso die Welt so ist, wie
sie ist: voll Brutalität, Gewalt und Hass.“ „Oh, Du kommst aber gleich
zur Sache. Also, ganz stimmt das nicht, was Du sagst. Es gibt in der Welt auch
noch die Liebe, die Freundschaft, die Opferbe- reitschaft oder wenn Du so
willst: das Gute.“ „Ja warum aber dann all die Gräuel, das Böse.“ Wie- der
antwortete er unheimlich sanft und mild, wie zu einem verängstigten Kinde
sprechend: „Wa- rum wollt ihr denn nicht verstehen! Was wäre in dieser doch
polar aufgebauten Welt der Tag oh- ne die Nacht, der gute Samariter ohne die
Räu- ber, die zuvor das arme Opfer überfielen, das Leben ohne den Tod!? Hätte
der Menschensohn ohne den Verrat des Judas und ohne sein Kreuz den Tod
überwinden und die Menschen retten können? Nein, der vielgeschmähte Judas war
in Wirklichkeit selber vollkommen unschuldig. Er war ein Auserwählter, ein
Werkzeug Gottes, um die Menschheit zu erlösen...“ Entsetzt fragte ich:
„Wie bitte, dieser Verbrecher, Verräter ein Aus- erwählter?“ Doch dann kam
mir die Erkenntnis: die polare Welt! Ohne Minus kein Plus, ohne Dunkel kein
Helligkeit, ohne das Böse kein Gu- tes! Und das Böse ist nur deshalb so stark,
weil der Mensch so schwach ist, denn überall, wo ein Mensch Macht hat, ist er
in Versuchung, sie zu missbrauchen. Er unterliegt fasst immer dieser Versuchung!
Der Bettler Ende
Der Bettler Ende
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