Der Bettler schien meine Gedanken zu lesen und sagte zufrieden: „Siehst Du,
warum wir dich hier- her geführt hatten?“ „Ja“, stammelte ich, „ich be- ginne
zu begreifen. Doch wo sind wir eigentlich? Ich habe diesen Platz und diese Kirche
im Stadt- plan überhaupt nicht gesehen.“ „Kannst Du auch nicht.“, kam die
Antwort, „Dieser Ort ist dort nicht verzeichnet.“ „Ja aber doch gibt es ihn.“,
entgeg- nete ich, worauf ich zur Antwort bekam: „Gewiss gibt es ihn. Unzählige
Male — überall in der gan- zen Welt — für alle die sich führen lassen und die
„sehen“ können.“ Der Bettler erschien mir auf einmal in einem viel
strahlenderen Licht, als es die untergehende Sonne, ja die Sonne überhaupt
hervorbringen konnte. „Wer bist Du eigentlich?“ stammelte ich noch schwach. „Du
bist doch gar kein Bettler.“ „Oh doch“, entgegnete er. Ich bin die
fleischgewordene leidende, hungernde, aber auch erlöste Menschheit. Ich bin –– Du!“
Mit diesen Worten erfasste mich ein irrsinniger Schwindel und ich stürzte
ohnmächtig zu Boden. Als ich die Augen wieder aufschlug, lag ich auf einer Bank
des prächtigen Domplatzes mit seiner wunderbar verzierten Kathedrale. Dort
hatten mich fürsorgliche Passanten hingelegt, bis der Notarzt eintreffen würde,
den wir aber nun nicht mehr brauchten. Dieses gewaltige Erlebnis an einem so
stillen Urlaubsnachmittag werde ich nie vergessen und allen erzählen, die
bereit sind, mir zuzuhören, auch wenn sie mich dann für verrückt erklären
werden.
Doch das ist mir egal. Ich muss es einfach, wie einen geheimen Auftrag
folgend, weitergeben, um vielleicht auch anderen den Weg zu weisen, denn mein
Leben hat sich seit diesem Tage grundlegend geändert. Ich grübele und zaudere
nicht mehr, sondern lasse mich, noch mehr als früher, führen. Meine bisherige
Angst vor dem Morgen ist wie weggeblasen. Ich sehe immer den verklärten Bettler
vor mir und spüre ihn in mir und unwillkürlich denke ich dabei an die Jesus-
worte am Schluss des Matthäusevangeliums:
„Seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt.“
An dieser wunderbaren Erfahrung soll ich aus Scheu, für einen Spinner
gehalten zu werden, nicht andere teilhaben lassen? Ob Sie, ob Du, der jetzt
diese Worte liest oder hörst, sagen soll- ten: „Womit habe ich bloß meine Zeit
hier verlo- ren!“ ist aber unerheblich. Eins weiß ich nämlich: Das Bild des
Bettlers, dass ich gezeichnet habe, wird Dir nie, nie wieder aus dem Kopf gehen
und Du wirst Dich, genau wie ich, noch nach vielen, vielen Jahren daran
erinnern. Vielleicht erzählst Du es ja sogar weiter, Deinen Kindern oder En-
keln, denn die hören solchen Geschichten be- kanntlich gerne zu, sind sie doch
noch nicht so schrecklich „erwachsen“ wie wir
alle.
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